Brombeeren kosten auf dem Jakobsweg

Volker Friebel

 

Wir sind, Anfang September, schon eine Weile unterwegs, wandern auf dem Jakobsweg westwärts, von Irun aus, einem baskischen Städtchen an der Mündung des Bidasoa, des Grenzflusses zu Frankreich. Sanfte Hügel, die an den Schwarzwald erinnern – und das Meer. Es bringt eine lichte Weite, die auch den Geist weit und den Schritt leichter macht.

Die erste Brombeere, am ersten Wandermorgen in einem Bergwald gepflückt, war sauer. Doch wie der Morgen vergeht und der Tag und die weiteren Tage, werden die Beeren süßer, Hecke um Hecke. Liegt es daran, dass sich unser Geschmack auf das Pilgern einstellt? Oder liegt es an der vergehenden Zeit und der mit ihr zunehmenden Reife?

Brombeere – ich schließe die Augen und koste das Wort: brāmberi‚ Dornstrauchbeere, ein Wort aus dem Althochdeutschen. Die Stacheln gehören dazu. Und das Schwarz. Sie bevorzugt Halbschatten oder das Licht, Wegränder im Wald sind ideal.

Besuche von Sonnenstrahlen und Fliegen. Und eines Schmetterlings. Wie viele Pilger hat diese Hecke wohl schon genährt. Ich esse Hand um Hand.

Manchmal wandern wir zu zweit, manchmal mit anderen Pilgern zusammen. Es ist nicht nötig, viel zu reden. Gelegentlich, ja. Ansonsten reichen ein Lächeln und ein Nicken des Kopfes. Ansonsten reicht es, den Atem der anderen zu hören und gelegentlich etwas zu teilen – etwa einen Blick auf das Meer.

 

Brombeerhecken
am Meer. In unser Schweigen
Donnern.

Pilgerpfad.
Im Staub liegen geblieben –
eine Brombeere.

 

Ein anderer Tag, wir sind früh los aus der Herberge, um in der Morgenkühle Strecke zu machen. Bald pfeifen Vögel im erwachenden Licht.

Das Pilgerfrühstück:
Brombeeren – gewaschen
vom Morgentau.

Ich koste und schaue zur Sonne, die sich gerade von den Bergen am Horizont löst. Ich koste noch einmal und gehe weiter.

Mein Nacken schmerzt seit Tagen. Schon jetzt, am frühen Morgen, rinnt am Anstieg mein Schweiß. Aber die Brombeeren sind süß. Das finden auch andere.

Die Hand schreckt zurück:
Vor der Beere
ein Spinnennetz.

 

Auf dem Weg von Pobeña nach Islares verläuft der Pfad streckenweise hoch über dem Meer. Ein kleiner alter Japaner vor uns wendet sich um, der aufgehenden Sonne zu, und verbeugt sich.

In der Herberge treffen wir ihn wieder. Er ist unterwegs von Paris nach Gibraltar. Ich erzähle von der japanischen Wanderung eines Freundes. Er nickt, den Pilgerweg rund um die Insel Shikoku, ja, den kennt er. 88 Tempel, 1.200 Kilometer, er habe sie alle erlaufen. Er erzählt, ist aber kaum zu verstehen, ein kauziger Wanderschrat. Doch er lacht. Wir lachen mit ihm.

 

Verfallene Kirche.
An den Brombeerhecken
das Licht erwarten.

Weide über dem Meer.
Ein Pferd, angepflockt,
schaut in das Blau.

Wir wandern, wir lassen alle Pflöcke hinter uns. Das Meer donnert an die Küste, als wolle es alles Feste zerschlagen. Brombeerhecken begleiten uns.

 

Ein Jahr später wandern wir in der Heimat, bei den Dreikaiserbergen mitten in Schwaben, fern von allen Küsten, außer der Küste des Himmels. Ein neuer Sommer schwindet, und wieder hat das Licht einige seiner Meisterwerke vollendet und mit aller Süße durchtränkt.

Brombeeren kosten.
Mit geschlossenen Augen lausch ich
dem Meer.

 

Foto: Strand bei Laredo, Jakobsweg Spanien.

 

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